Die "Neue Musik" ist tot, es lebe neue Musik
Betrachtungen gegen den Strom
Nachdem die alten "Avantgardisten" ihre Ideale, insbesondere das des
kontinuierlichen
Fortschritts des musikalischen Materials, im Lauf der Zeit verraten
haben, die neueste Produktion entweder auf Imitation der alten
avantgardistischen Werke oder aber auf die postmoderne Variante von
Klassizismus und Expressionismus hinausläuft, muß man sagen: die "Neue
Musik" ist tot. Abhilfe aus dieser Situation kann nur das schöpferische
Denken in den von der "Neuen Musik" vernachlässigten, gleichwohl
zentralen Bereichen der Musik, nämlich Rhythmus, Zusammenklang und
Melodik, bringen.
Dies ist nur möglich, wenn man sich zuerst und vor allen Dingen von der
"Ideologie der Neuen Musik" freimacht, von deren Verpflichtung auf die
Fortschrittsideologie ("Tendenz des musikalischen Materials"), von
deren pseudowissenschaftlicher Verknüpfung von musikalischen Phänomenen
mit gesellschaftlichen Zuständen, schließlich von ihrer oft
bußpredigerhaften, gesellschafts=und kulturkritischen Schurigelei.
Schöpferisches Denken im Bereich der Zusammenklänge bedeutet, diese aus
den Fesseln traditionellen Tonsatzdenkens zu befreien. Dadurch können
sogar schlichte triadische Akkorde wieder eine unmuseale Verwendung
finden. Ziel dieses schöpferischen Denkens ist es, vorbehaltlos alle
Akkorde verwenden zu können, von den einfachen bis zu den komplexen.
Schöpferisches Denken im Bereich des Rhythmus bedeutet, vor allem von
anderen Musikkulturen zu lernen, von der arabischen, indischen, der
schwarzafrikanischen, vom "Jazz" und den auf ihn folgenden
Musikströmungen. Hierzu gilt es auch, sich von zentraleuropäischem
Bildungsbürgerdünkel zu verabschieden.
Mit schöpferischem Denken bei Zusammenklängen und Rhythmus im
Hintergrund kann auch im Bereich der Melodizität Neuartiges entstehen,
sei es als tatsächliche Melodik, sei es als Symbiose von Klang und
Melodik.
Schöpferisches Denken soll schließlich ganz besonders die
musiktheoretische Mangelsituation aus der Welt schaffen, die infolge
des Zusammenbruchs der alten, unangemessen gewordenen Harmonielehre
entstanden ist. Nicht deren zeitbedingte stilistische Regeln, deren
Erneuerung Schönberg unternahm, sondern die ebenfalls in ihr enthaltene
Theorie über den Fortgang der Musik in der Zeit verlangt nach Ersatz,
als allgemein formulierte Theorie eines propulsiven Prinzips in der
Musik, die alle akustischen Phänomene berücksichtigt, also auch
Geräusche, nicht nur Töne, und auch andere musikalische Eigenschaften
einbezieht außer den Zusammenklang.
Durch interdisziplinäres Denken unter Einbezug der Kybernetik ist solch
eine Theorie möglich. Sie gibt auch neue formöffnende Mechanismen an
die Hand, welche die als Geniestreich hinausposaunte "Momentform", die
ja nur "Konsequenz" des Zusammenbruchs der alten Harmonielehre ist,
überwinden können.
Auf einer höheren Ebene geht es um eine Umgestaltung des Musikdenkens
als solchem, weg von motivisch-thematischer Musik (und "thematischer
Arbeit") und ihrer letzten Konsequenz, dem Serialismus, hin zu sonaler
Musik, in der nicht melodische Linien, sondern Klänge im Mittelpunkt
der kompositorischen Arbeit stehen ("Klangarbeit", "rhythmische
Arbeit").
Die schöpferische Erneuerung auf den beschriebenen zentralen Gebieten
der Musik führt in eine andere, hoffnungsvollere ästhetische Richtung
als das Auf-der-Stelle-Treten in alten "avantgardistischen" Positionen
oder als die "Postmoderne", eben zu "sonaler Musik". Aus dieser Sicht
ist alle zuvor geschaffene Musik, insbesondere eben auch die "Neue
Musik" "präsonal".
Während "Avantgardisten" eindimensional dem Fortschritt entlang denken,
erkundet die schöpferisch tätige Persönlichkeit ein mehrdimensionales
Terrain, deswegen steht der uniformen und vorhersehbaren Produktion des
"Avantgardisten" ein vielgestaltiges und schwer etikettierbares Oeuvre
der Schöpferpersönlichkeit gegenüber.
Im Gegensatz zum nach künftiger Klassizität schielenden
"Avantgardisten" nimmt die nur sich selbst treue Schöpferpersönlichkeit
eine von Tradition, realem Publikum und jeglicher Art von Musikbetrieb
unabhängie Position ein, läßt sich also auch vom Neue-Musik-Betrieb
nicht verbiegen.
Im Gegensatz zu den meisten relevanten Komponisten der
Vorgängergeneration und ihrer um eine Generation jüngeren Nachfolger,
die der Fortschrittsideologie der Musik anhängen, die zuerst konsequent
von Schönberg vertreten und umgesetzt wurde, bin ich weniger
geschichtsergeben, nicht mit Haut und Haaren der abendländischen
Musiktradition verpflichtet. Vielmehr geht es um eine Verflechtung
dieser Tradition mit anderen musikalischen Traditionen außerhalb
Europas, jedoch so, daß die Elemente nicht mehr ohne weiteres erkannt
werden können, sondern in ihrer Verschmelzung eine neue Qualität
bekommen. In einer Musikszene, in der exklusive Originalität zwanghaft
und absichtsvoll hergestellt wird, geht es mir darum, eine solche eher
unbewußt entstehen zu lassen.
Ich betone die grundsätzliche Freiheit der musikalischen Imagination
sowohl von traditionalistischen oder
fortschrittsideologisch-avantgardistischen Zwängen, als auch ihre
Unantastbarkeit von bußpredigerhaften Vorwürfen. Den prinzipiell
absichtslosen Grundantrieb des Komponierens und damit verbunden den im
Wesen zweckfreien Charakter eines Kunstwerks sowie seinen
ganzheitlichen Charakters.